«Impfen ist für mich eine Gesellschaftsaufgabe»

Dr. med. Jacques Gubler ist ein erfahrener Experte auf dem Gebiet von Infektionskrankheiten und der Impfungen dagegen. Er hat als Infektiologe über drei Jahrzehnte mehrere Impfkampagnen im In- und Ausland mitgemacht und aktuell das Corona-Impfzentrum in Winterthur mit aufgebaut. Er sieht im Impfen weit mehr als eine Massnahme zum eigenen Schutz, von der Bechterew-Betroffene besonders profitieren.

30. August 2021

Dr. Gubler, können Sie erklären, wie Impfungen funktionieren und wie diese Funktionsweise im Zusammenhang steht mit einer Bechterew-Erkrankung bzw. einer das Immunsystem unterdrückenden Therapie?

Impfungen lösen eine Abwehrreaktion im Körper aus, indem sie eine Infektion nachahmen, ohne eine Erkrankung auszulösen. Wie bei einer Infektion wird etwas Fremdes – ein Erreger oder Bestandteile davon – der Körperabwehr so präsentiert, dass Antikörper gegen dieses Fremde gebildet werden. Diese Antikörper machen den Erreger dann unschädlich. Früher machte man das, indem man dem Körper ähnliche Viren präsentierte, die weniger krank machten. So funktionierte auch die erste Impfung überhaupt, jene gegen Pocken, Ende des 18. Jahrhunderts mit Verwendung von Kuhpocken. Eine weitere Variante sind abgetötete oder abgeschwächte Viren, die in die Zellen eingeschleust werden. Und seit einigen Jahren gibt es sogenannte Split- oder Subunit-Impfungen, bei denen nur Virusbestandteile eingeschleust werden. So funktionieren zum Beispiel viele Grippe-Impfstoffe. Bei den Corona-Impfungen ist es nun sogar nur der genetische Bauplan eines Virusbestandteils, der in die Zellen eingeschleust wird. Die Zellen produzieren dann diesen Bestandteil, gegen den eine Immunabwehr ausgelöst wird, und danach wird der Bauplan sozusagen wieder zerrissen. Beim Coronavirus wird das sogenannte Spikeprotein produziert, mit dem das Virus an die menschlichen Zellen andockt. Bei allen Impfungen wird damit eine Ansteckung nachgespielt, die im Falle einer echten Ansteckung vor einer Erkrankung schützt.

Bei Rheumapatienten allgemein beeinflusst vor allem der Grad der Immunsuppression die Stärke der Impfwirkung. Diese ist bei Gabe von Cortisonpräparaten und gewissen Biologika, welche auf die B-Lymphozyten wirken, abgeschwächt. Diese Substanzen werden bei Bechterew-Betroffenen kaum eingesetzt. So besteht weder ein erhöhtes Risiko für einen schwereren Verlauf einer Covid-19-Infektion, noch wird die Impfwirkung wesentlich beeinträchtigt oder sind im Zusammenhang mit einer Impfung gegen das Coronavirus für Bechterew-Betroffene einzigartige Nebenwirkungen beobachtet worden. Leider ist es oft so, dass, wenn im Zeitraum rund um eine Impfung ein Problem auftritt, dieses mit der Impfung in Verbindung gebracht wird, auch wenn diese gar nicht der Auslöser des Problems ist.

Gibt es neben den Vorteilen auch Risiken von Impfungen, die Bechterew-Betroffene beachten sollten?

Auch bei Betroffenen mit einer Autoimmunerkrankung wie dem Morbus Bechterew ist das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs grösser als das Impfrisiko. Deshalb wird diesen Patienten zum Beispiel auch die Grippe-Impfung empfohlen. Auch kann die Immunantwort bei einer das Immunsystem unterdrückenden Therapie etwas schwächer sein. In speziellen Fällen sollten schliesslich Lebend-Impfstoffe, z.B. gegen Gelbfieber, nur in sorgfältiger Abwägung von Nutzen und Risiko angewendet werden. Ein Risiko, das alle gleich betrifft, sind Virusmutationen. Die Corona-Impfstoffe werden aber bereits so weiterentwickelt, dass sie auch diese Mutationen werden abwehren können.

Bei Personen mit einer das Immunsystem unterdrückenden Therapie wäre es ebenfalls wichtig, dass sich das nähere Umfeld dieser Personen impfen lässt, um keine Infektionserreger einzuschleppen. Das ist das Prinzip des sogenannten «Cocooning». So kann ein «Cocon», also eine schützende Hülle, um die Person mit erhöhtem Risiko gebildet werden.

Vor allem in den Industrieländern ist seit einigen Jahren eine grösser werdende Impfskepsis oder Impfmüdigkeit zu beobachten. Welches sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür und was bedeutet diese Entwicklung für Bechterew-Betroffene?

Impfungen haben so erfolgreich gewisse Infektionskrankheiten zurückgebunden, dass in der westlichen Welt die Bevölkerung keine Erfahrung mit diesen mehr hat und darum deren Gefahr nicht mehr erlebt. Meiner Meinung nach ist das Impfen eine Gesellschaftsaufgabe. Man tut es nicht nur für den Selbstschutz. Unsere Gesellschaft orientiert sich aber immer mehr am Individuellen. Es ist wie bei den Geschwindigkeitsbegrenzungen auf den Strassen. Durch sie können nicht alle Unfälle vermieden werden, aber es gibt weniger und weniger schwerwiegende. Man könnte also sagen, Impfgegner verhalten sich ein wenig wie Raser.

Durch Impfungen wird die Viruszirkulation wirkungsvoll abgeschnitten. Dadurch sind auch Risikopatienten dem Virus weniger ausgesetzt. Es bleibt immer ein Restrisiko bestehen, doch in den heutigen Diskussionen scheint die Angst vor Impfnebenwirkungen manchmal grösser als vor der Krankheit, gegen die geimpft wird. Noch in den 1950er-Jahren hatten Eltern grosse Angst, dass ihre Kinder das Poliovirus bekommen könnten, das die Kinderlähmung auslöst. Als dann Mitte der 50er-Jahre eine Impfung dagegen zur Verfügung stand, wollten alle sofort ihre Kinder impfen lassen.

Bei Impfungen scheint das Argument «Schutz der Gesellschaft » oftmals nicht auszureichen, es braucht ein individuelles Erleben der Gefahr. In Japan beispielsweise wird der Schutz anderer höher gewichtet, weshalb dort schon vor Corona zum Beispiel bei Erkältungen Masken getragen wurden. Impfverweigerer leben meiner Meinung nach auf Kosten jener, die sich impfen lassen. In der Schweiz leisten wir uns diesen Individualismus noch, in anderen Ländern gibt es zum Teil viel mehr Pflichtimpfungen. Es ist in meinen Augen durchaus legitim, Privilegien für Geimpfte zuzulassen und zumindest gewisse Nachteile für Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen.

Was erklären Sie Menschen, welche wegen der raschen Impfstoffentwicklung Bedenken zu deren Sicherheit äussern?

Die Krankheiten, gegen die man impft, haben immer ein höheres Risiko als die Impfungen selbst. Natürlich kennt man allfällige Langzeitwirkungen der Corona-Impfung heute noch nicht. Doch inzwischen wurden Hunderte Millionen Menschen erfolgreich geimpft, so viele wie noch nie in der Geschichte. Auch wurden die Impfungen gegen das SARS-Coronavirus den exakt gleichen Prüfverfahren unterzogen wie andere Impfungen. Der Grund, dass dies rund zehnmal schneller passierte, ist, dass viele Regierungen riesige Summen in die Entwicklung investierten. So konnten die verschiedenen Entwicklungsphasen parallel statt hintereinander stattfinden. Man musste auch nie, wie sonst üblich, darauf warten, dass Geld für den nächsten Entwicklungsschritt gesprochen wurde. Auch konnte die Produktion der Impfstoffe bereits vorbereitet werden, als sie noch in der Testphase waren. Das Grundprinzip der Corona-Impfstoffe war bereits früher bekannt. Es waren also die Faktoren Geld und Wissenschaft sowie der Druck durch die Pandemie, die eine so schnelle Entwicklung ermöglichten.

Vielen Dank für dieses Gespräch.

Dr. med. Jacques Gubler ist Facharzt FMH für Infektiologie und Innere Medizin und ehemaliger Chefarzt der Medizinischen Poliklinik und Infektiologie am Kantonsspital Winterthur KSW. Dort ist er heute als Senior Consultant tätig.

Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift «vertical» Nr. 89 / August 2021 erschienen. Er ist besonders lesenswert und daher auf der Website als «Exklusiver Inhalt für Mitglieder» gekennzeichnet.