Immunsystem und Bechterew: Wenn der «Freund und Helfer» angreift

Das Immunsystem ist für unser Überleben absolut notwendig. Es schützt uns vor Krankheiten, Erregern und schädlichen Umwelteinflüssen. Doch das Immunsystem funktioniert leider nicht immer wie gewünscht. Beim Bechterew gerät es ausser Kontrolle und greift den eigenen Körper an. Doch was passiert da eigentlich genau? Und vor allem: Wie sollen wir uns gegenüber diesem Freund, der zum Feind wird, verhalten?

18. Mai 2022

Erkranken wir beispielsweise an der Grippe, ist unser Immunsystem geschwächt und muss – teilweise aus eigener Kraft und teilweise mit Unterstützung – wieder auf die Beine kommen. Doch wie funktioniert das Immunsystem? Wie können wir es stärken? Und sollen wir das im Fall des Bechterews überhaupt? Beim Bechterew spielt das Immunsystem eine zentrale Rolle. Denn der Bechterew gehört zu den sogenannten autoinflammatorischen oder Autoimmun-Erkrankungen, also zu jenen Krankheiten, bei denen sich das Immunsystem gegen den eigenen Körper richtet. Wieso es dies tut, wüssten wohl alle Bechterew-Betroffenen, die Ärzte und natürlich auch die Forschenden gern. Auch gewisse Medikamente, die sogenannten TNF-Alpha- und Interleukin-17-Hemmer, haben einen Einfluss auf das Immunsystem. Sie lindern zwar die Beschwerden der Betroffenen, machen diese aber gleichzeitig anfälliger für Infekte, weil sie die Aktivität des Immunsystems insgesamt unterdrücken.

Man könnte also sagen, das Immunsystem und Bechterew- Betroffene haben eine etwas zwiespältige Beziehung. Das kann einerseits mit unseren Genen und andererseits auch mit unserer Lebensweise oder gewissen Belastungssituationen zu tun haben. Die Kann-Formulierung ist hier ganz bewusst gewählt, denn viele der Fragen rund um die Gene, das Immunsystem und den Bechterew konnten leider noch nicht abschliessend geklärt werden. So ist dieser Artikel denn auch als Spurensuche zu verstehen, und einige Fragen werden offen bleiben müssen. Sicher haben viele Betroffene schon vom ominösen HLA-B27 gehört, dem Erbfaktor also, der bei Bechterew-Betroffenen auffällig häufig vorkommt. Denn bereits seit mehreren Jahrzehnten ist die familiäre Häufung des Bechterews ja bekannt. Doch seit dieser bahnbrechenden Entdeckung hat sich viel getan. Das menschliche Erbgut konnte vollständig entschlüsselt werden. Und neue Technologien haben den Zeitaufwand und die Kosten für diesen Prozess um ein Vielfaches reduziert. Damit besteht auch für Bechterew-Betroffene Hoffnung auf neue Behandlungsmöglichkeiten. Viele Gründe also, weshalb es für Betroffene dieser Autoimmun-Erkrankung interessant ist, dem immer noch geheimnisvollen Immunsystem einmal auf den Grund zu gehen.

Zu Risiken und positiven Wirkungen

Wir Menschen – unabhängig davon, ob mit oder ohne Bechterew – stehen in ständigem Austausch mit der Umwelt. Und dies nicht nur durch Begegnungen und Kommunikation, sondern auch durch den Austausch von Mikroorganismen, Viren und Bakterien. Dieser Austausch kann einerseits mit Risiken verbunden sein, andererseits ist die Besiedlung mit Mikroorganismen auf dem und im Körper entscheidend für unsere Überlebensfähigkeit. Nur durch sie kann sich unser Immunsystem, also unser körpereigenes Sicherheitsnetz aus Feuerwehr, Sanität und Polizei, entwickeln und unseren Körper vor Krankheitserregern und schädlichen Umwelteinflüssen schützen.

Ein erwachsener Mensch wird von etwa 100 Billionen Bakterien besiedelt, der Grossteil davon im Magen-Darm-Trakt. Doch wenn wir auf die Welt kommen, ist der Darm zunächst noch frei von Bakterien und wir damit ziemlich ausgeliefert. Der Schutz wird erst mit der Zeit aufgebaut und muss sich dann während unseres ganzen Lebens immer wieder an neue Situationen und Bedrohungen anpassen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Immunsystem von Bechterew-Betroffenen nicht von demjenigen nichtbetroffener Personen. Doch für Betroffene von chronisch-entzündlichen Erkrankungen wie dem Morbus Bechterew scheinen die Billionen von Bakterien, die den Darm besiedeln – sie werden häufig Darmflora oder Mikrobiom genannt –, eine besondere Bedeutung zu haben. So treten diese Erkrankungen auffällig häufig zusammen auf und es bestehen auch Ähnlichkeiten im Entzündungsgeschehen. Doch könnten die Bakterien womöglich sogar mitverantwortlich sein für den Ausbruch des Morbus Bechterew?

Der Ort des Geschehens

Tatsächlich ist das häufige gemeinsame Auftreten chronisch-entzündlicher Erkrankungen eine wichtige Spur bei der Erforschung der Ursachen des Morbus Bechterew. Denn die Tatsache, dass das Immunsystem bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) durch die Verletzungen der Darmschleimhaut ständig Darmbakterien ausgesetzt ist, ist ein Hinweis dafür, dass es auch beim Bechterew eine wiederholte Stimulation durch Bakterien sein könnte, welche die schädliche Immunreaktion auslöst. Auch wenn diese Zusammenhänge noch nicht abschliessend geklärt werden konnten, weiss man immerhin etwas über den genauen Ort des Krankheitsgeschehens beim Bechterew. So scheint der primäre Ort der Entzündung jeweils an der Grenzzone zwischen Knorpel und Knochen zu liegen. Dabei handelt es sich um sogenannten Faserknorpel, also zum Beispiel Sehnen und Bänder, die am Knochen ansetzen, oder auch um die Berührungsflächen zwischen Wirbelkörper und Bandscheiben. In Versuchen konnte auch gezeigt werden, dass aus den Sakroiliakalgelenken bestimmte Zellen, die aus dem Knochenmark stammen, in den Knorpel eindrangen. Als deren Quelle kommen somit neben dem Knochenmark selbst auch die Blutgefässe im Knochenmark in Frage. Die gleichen Zellen konnten in den Versuchen auch an anderen Orten des Krankheitsgeschehens wie beispielsweise im Auge oder in der Hauptschlagader nachgewiesen werden.

Ausserdem gibt es auch Studien zur Frage, inwiefern die Immunantwort beim Bechterew durch Traumata – physischer oder psychischer Natur – ausgelöst werden könnte. Physische Traumata finden vor allem dort statt, wo die Belastung besonders gross ist, also zum Beispiel bei den häufig betroffenen Sehnenansätzen an den unteren Extremitäten, der Wirbelsäule und der Ferse. Das Trauma könnte dann einen ersten bakteriellen Kontakt und eine unspezifische Entzündung auslösen, die dann das Immunsystem in Fahrt bringt. Ob dazu ein einmaliger Kontakt ausreicht oder ob dieser anhaltend sein muss, konnte bisher nicht endgültig beantwortet werden. Auch traumatische Kindheitserfahrungen könnten gemäss einer neueren Untersuchung eine wesentliche Rolle bei der Entstehung entzündlich-rheumatischer Erkrankungen spielen.

Zu viel Hygiene, zu wenig Muttermilch?

Wenn also beim Bechterew die Gene und das Immunsystem, aber auch die Bakterien im Darm eine Rolle zu spielen scheinen, stellen sich für Betroffene ganz konkrete Fragen. Hat man als betroffener Mensch über die Ernährung oder die Hygiene auch selbst einen Einfluss? Oder könnte allenfalls die Umgebung, in der man aufgewachsen ist, eine Rolle spielen? Beispielsweise gibt es die sogenannte «Hygiene-Hypothese», die besagt, dass ein allzu hygienisches Umfeld in der Kindheit das Ausbrechen von Autoimmun-Erkrankungen begünstigen könne. Gemäss der Hypothese ist das Immunsystem von Kindern, die in einem solchen Umfeld aufwachsen, zu wenig gefordert und kann sich deshalb nicht richtig entwickeln. Als Folge davon ist es dann im Erwachsenenalter überfordert. Es gibt eine Vielzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen zur Hygiene-Hypothese, doch unter den Forschenden bestehen bis heute grosse Meinungsverschiedenheiten über ihre Gültigkeit.

Auch das Thema Muttermilch taucht im Zusammenhang mit dem Immunsystem und Autoimmun-Erkrankungen immer wieder auf. Denn die Muttermilch ist ja nicht einfach nur Nahrung während der ersten Lebensmonate, sondern mit all ihren Botenstoffen und Spurenelementen entscheidend am Aufbau des Immunsystems beteiligt. Es bleibt indes weiterhin offen, ob Babys, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht gestillt werden konnten, ein höheres Risiko haben, später am Morbus Bechterew zu erkranken. Betroffene müssen bei der Frage, ob sie auf irgendeine Art und Weise Einfluss auf die Autoimmunreaktion nehmen können, also weiterhin im Dunkeln tappen.

«Pech und schlechte Gene»

Aber was ist es denn nun, was zu der schädlichen Immunreaktion beim Bechterew führt? Zu wenig Muttermilch, zu viel Hygiene? Stress oder eine körperliche Überbelastung? Oder doch die Gene? Oder eine Kombination von verschiedenen Faktoren? Die Forschung geht heute davon aus, dass es neben all diesen möglichen, aber immer noch weitgehend ungeklärten Faktoren auch schlicht und einfach der Faktor «Pech» sei, der zum Ausbruch des Bechterews führt. Die Forscher sprechen von der Konstellation «Pech und schlechte Gene». Für Betroffene ist es natürlich nicht besonders hilfreich, wenn man ihnen zuruft: «Pech gehabt!» Tatsache ist aber, dass man bis heute weder einen einzelnen Faktor noch eine bestimmte Kombination von Faktoren dingfest machen konnte, die eine Autoimmun-Erkrankung mit Sicherheit auslösen. Gemäss heutigem Stand muss also davon ausgegangen werden, dass leider auch eine Portion Pech dazugehört, wenn der Bechterew ausbricht.

Dass dem so ist, zeigen Untersuchungen mit eineiigen Zwillingen. Bei den meisten Immunerkrankungen liegt das Risiko, dass neben dem einen Zwilling auch der andere Zwilling von derselben Autoimmun-Erkrankung betroffen ist, unter 50 %. Am höchsten ist dieser Wert bei der chronisch-entzündlichen Darmerkrankung Morbus Crohn. Das Risiko, zu erkranken, wird also nicht allein von den Genen, aber auch nicht ausschliesslich von Umweltfaktoren beeinflusst. Es muss also eine Mischung von beidem sein. Beim Bechterew weiss man zwar seit 1973, dass der Erbfaktor HLA-B27 bei Bechterew-Betroffenen deutlich häufiger vorkommt als in der nicht-betroffenen Bevölkerung. Und dazu gibt es mehrere Theorien über den Zusammenhang zwischen dem Erbfaktor und dem Immunsystem. Doch auch heute ist noch immer unklar, welche dieser Theorien die richtige ist.

Wir haben zumindest teilweise die Kontrolle

Das Glück für Betroffene von Morbus Bechterew ist, dass seit der Entdeckung von HLA-B27 grosse Fortschritte in der Genetik gemacht wurden und immer noch gemacht werden. So kann das gesamte Erbgut eines Menschen heute viel schneller und kostengünstiger analysiert werden. Und es werden sogenannte genomweite Assoziationsstudien möglich, bei denen zum Beispiel das Erbgut von sehr vielen Bechterew-Betroffenen verglichen werden könnte. So ist es theoretisch möglich, irgendwann ein genaues genetisches Profil des Morbus Bechterew zu finden. Aus der Kombination «Pech und schlechte Gene» könnte dann eine Perspektive für neue Behandlungs- oder gar Heilmethoden entstehen.

Bereits heute haben wir gelernt, die schädliche Immunreaktion, wie sie beim Bechterew vorkommt, zu unterbinden. Die Rede ist von den biologischen Therapien bzw. den TNF-Alpha- oder Interleukin-17-Hemmern. Durch sie sind die therapeutischen Möglichkeiten für Menschen mit Morbus Bechterew heute deutlich grösser als noch vor 20 Jahren. Mit diesen Medikamenten wurde es erstmals möglich, die autoinflammatorische Reaktion zu unterdrücken. Der Nebeneffekt oder die unerwünschte Wirkung dieses Durchbruchs ist die allgemeine Schwächung des Immunsystems, die zu einer leicht höheren Anfälligkeit für Infekte führt. Das Immunsystem ist eben zu komplex, als dass es sich ganz so einfach austricksen lassen würde. Die Folge ist das vermehrte Auftreten von Infektionskrankheiten, wie beispielsweise einer Grippe oder einer Blasenentzündung. Aufgrund dessen ist unter einer biologischen Therapie vor Behandlungsbeginn eine Überprüfung der Grundimmunisierung und der empfohlenen Auffrischimpfungen durch den Hausarzt nötig.

Neue Behandlungsansätze…

Was wäre nun, wenn diese heute zwar hochmodernen und für viele Betroffene hilfreichen Medikamente nur der Anfang von etwas viel Grösserem wären? Wenn sie sozusagen die Schallplatten und VHS-Kassetten der 1980er-Jahre wären und wir noch keine Ahnung hätten, dass da noch CDs, DVDs, MP3-Player und Sharing-Plattformen für Musik und Filme auf dem Internet auf uns warten? Es sollen hier keine überzogenen Hoffnungen gemacht werden, sondern lediglich aufgezeigt werden, dass es sich auch für Bechterew- Betroffene lohnt, für das heute noch Undenkbare offen zu bleiben.

Denn die Forschenden arbeiten in ihren Labors bereits mit Hochdruck daran, völlig neue Behandlungsmethoden für Autoimmun-Erkrankungen wie den Morbus Bechterew zu untersuchen. So konnte ein internationales Forscherteam zum Beispiel nachweisen, dass das Immunsystem über Stimulationen des zentralen Nervensystems beeinflusst werden kann. Das funktioniert in etwa wie ein Herzschrittmacher. Davon ausgehend, dass eines der Hauptanzeichen einer Entzündung Schmerzen sind, kann man sicher sein, dass das Gehirn über die Entzündung «Bescheid weiss». Andernfalls würde man die Schmerzen ja gar nicht wahrnehmen. Die Forscher folgern daraus, dass es umgekehrt auch möglich sein sollte, über das zentrale Nervensystem Einfluss auf die Entzündung zu nehmen. Sie untersuchten ihren Therapieansatz mittels schwacher elektrischer Impulse bei einer kleinen Gruppe von Patienten mit Rheumatoider Arthritis (RA), bei denen medikamentöse Therapien wirkungslos waren. Und tatsächlich zeigten 12 der 17 Probanden durch den «Immunschrittmacher» deutliche Verbesserungen.

…und der wichtige eigene Beitrag

Solche – zugegebenermassen noch sehr experimentelle – Ansätze zeigen, dass in der Medizin noch vieles möglich ist, und sie geben den Betroffenen immer wieder Hoffnung. Doch bis diese futuristischen Methoden im Stadium der Behandlungsreife angekommen sind, wird es wohl noch Jahre oder Jahrzehnte dauern. Umso glücklicher können sich Betroffene schätzen, bei denen die heute verfügbaren biologischen Medikamente gut wirken. Auch wenn sie die eigentliche Wurzel des Problems, also die Fehlfunktion des Immunsystems, nicht zu beheben vermögen, so können sie der Entzündung doch klar Einhalt gebieten und so den Betroffenen viel Lebensqualität zurückgeben.

Daneben bleibt gerade auch mit Blick auf das Immunsystem der eigene Beitrag in Form von Bewegungstherapie und eines gesunden Lebensstils zentral. Dazu gehören neben einer gesunden Ernährung auch genügend Bewegung und Schlaf sowie der regelmässige Aufenthalt in der Natur. Denn auch wenn das Immunsystem von Bechterew-Betroffenen aus dem Gleichgewicht geraten ist, hat es doch immer noch eine wichtige schützende Funktion. Und damit es diese ausüben kann, braucht es unsere Unterstützung.

Ein Erklärvideo über das Immunsystem beim Morbus Bechterew finden Sie hier.

Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift «vertical» Nr. 83 erschienen.