Früherkennung: Was wir von anderen Ländern lernen können

Die Diagnoseverzögerung beim Morbus Bechterew konnte in den letzten Jahren zwar weiter reduziert werden. Doch es dauert immer noch zu lange von den ersten Symptomen bis zur Diagnose. Dies zeigte auch die Bechterew- Umfrage 2020 der SVMB. Auch in anderen Ländern werden deshalb neue Kampagnen realisiert, teils mit Pioniercharakter. Von diesen kann auch die Schweiz lernen.

9. Juni 2022

Vor allem die ersten Jahre mit dem Bechterew stellen für viele Betroffene eine grosse Herausforderung dar. Das Problem liegt in der Verzögerung von den ersten Symptomen bis zu dem Moment, in dem eine Ärztin oder ein Arzt die Diagnose stellt und damit Klarheit über die Ursache der Beschwerden schafft. Diese Zeitspanne ist für die Betroffenen nicht nur eine Wartezeit, sondern sie geht häufig mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen und einer grossen Unsicherheit einher. Zudem wäre es in dieser Phase besonders wichtig, den Krankheitsverlauf durch einen frühzeitigen Therapiebeginn positiv zu beeinflussen. Und diese Zeitspanne beträgt leider immer noch mehrere Jahre. In der Schweiz warten Betroffene im Durchschnitt immer noch 9,8 Jahre – also fast ein Jahrzehnt – auf die Diagnose. Bei der einen Hälfte der Betroffenen dauert die Verzögerung weniger als sechs Jahre, bei der anderen mehr als sechs Jahre. Ein deutlicher Unterschied besteht in Sachen Diagnoseverzögerung auch zwischen Frauen und Männern. Während Männer im Schnitt 7,9 Jahre warten müssen, sind es bei Frauen sogar 10,8 Jahre.

Es ist deshalb nicht überraschend, dass verschiedene Bechterew-Organisationen nun neue Aufklärungskampagnen zum Thema Früherkennung lanciert haben. So hat die internationale Bechterew-Vereinigung ASIF (Axial Spondyloarthritis International Federation) einen neuen Report zum Thema veröffentlicht. Dieser trägt den Titel «The Unacceptable Delay in Axial Spondyloarthritis Diagnosis: A Global Call to Action», zu Deutsch «Die inakzeptable Diagnoseverzögerung bei der Diagnose der Axialen Spondyloarthritis: ein globaler Aufruf zum Handeln».

Der Bericht beleuchtet die globalen Auswirkungen der Verzögerung der axSpA-Diagnose und soll diejenigen unterstützen, die sich für eine Verringerung der Verzögerung einsetzen und politische Entscheidungsträger und Gesundheitssysteme auf die Notwendigkeit von Veränderungen hinweisen. Er zeigt zum ersten Mal eine globale Perspektive der Auswirkungen von Diagnoseverzögerungen und die verschiedenen Faktoren, die dazu beitragen. Er hebt auch Möglichkeiten zur Überwindung der Verzögerung hervor und stützt sich dabei auf verschiedene Best-Practice-Beispiele aus der ganzen Welt.

Erstmals «Goldstandard»

Eines der Beispiele ist die Kampagne «Act on AxSpA» der britischen Bechterew-Vereinigung NASS (National Axial Spondyloarthritis Society). Die Kampagne hat in der Geschichte der Bechterew-Aufklärungskampagnen Pioniercharakter. Denn sie formuliert erstmals einen sogenannten «Goldstandard» für die Diagnosestellung beim Bechterew. Laut diesem Standard soll die Diagnoseverzögerung höchstens ein Jahr betragen. Als Goldstandard wird in der Medizin ein therapeutisches oder diagnostisches Verfahren beschrieben, das in einem konkreten Fall die beste Lösung darstellt.

Der Begriff ist durch die Corona-Pandemie einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden, da in diesem Zusammenhang der sogenannte PCR-Test als Goldstandard unter den Testverfahren bezeichnet wird. Die Kampagne der NASS beinhaltet unter anderem einen kurzen, humoristischen Film mit dem Titel «I’m fine», zu Deutsch «Mir geht’s gut». Darin sind verschiedene Personen zu sehen, die sich in einem Café treffen. In verschiedenen Konstellationen fragt eine Person die andere, wie es ihr gehe, worauf Letztere immer mit «Fine», also «Gut» antwortet. Die erste Person erzählt anschliessend ausschweifend von ihren vermeintlich grossen Problemen – von Schwierigkeiten beim «Self-Checkout» im Supermarkt bis zu verspäteten Flügen – worauf die zweite Person schliesslich ihr Schweigen bricht und berichtet, worin ihre Probleme bestünden: von schweren chronischen Schmerzen oder mehreren Jahren Unsicherheit bis zu einer gesicherten Diagnose. So eindrücklich diese Schilderungen von Bechterew-Betroffenen, so ambitioniert ist auch das Ziel der britischen Bechterew-Vereinigung, die Diagnoseverzögerung auf ein Jahr zu reduzieren.

Schon der Titel des internationalen Berichts zur Diagnoseverzögerung ist
unmissverständlich. Diese sei «inakzeptabel»

In den Niederlanden wurden verschiedene Strategien der ärztlichen Überweisung untersucht. Von den Resultaten kann auch die Schweiz profitieren.

Konkrete Ideen und Vorschläge

Denn die Herausforderungen, die Diagnoseverzögerung beim Bechterew zu reduzieren, sind vielfältig und zeigen sich auch im Bericht der ASIF. Man denke nur daran, wie verschieden die Gesundheitssysteme funktionieren. Am Schluss können sogar bestimmte Einzelpersonen wie zum Beispiel der behandelnde Arzt die entscheidende Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund ist ein weiteres Beispiel im ASIF-Report besonders interessant. Es beleuchtet die Frage, wie die ärztliche Überweisung von Bechterew-Patienten in Holland verbessert werden könnte. Dabei wurden verschiedene Überweisungsansätze wissenschaftlich untersucht. Die Ergebnisse zeigten, dass es nicht ein einziges Kriterium gibt, das für die Diagnose axSpA verwendet werden kann. Während das Screening auf HLA-B27 zum Beispiel verlockend ist, hängt seine Effektivität von der Häufigkeit in der Allgemeinbevölkerung ab, die je nach geografischer Lage und ethnischer Zugehörigkeit variiert.

Ähnlich verhält es sich mit entzündlichen Rückenschmerzen, die als führendes klinisches Symptom der AxSpA angesehen werden. Es gibt Hinweise darauf, dass sie nur bei etwa vier Fünfteln der Erkrankten auftreten, und es ist für Laien schwierig, diese Schmerzen einzuordnen. Auch die Schweiz stellt in Sachen Diagnoseverzögerung leider keine Ausnahme dar. Deshalb unternimmt auch die SVMB grosse Anstrengungen in diesem Bereich. So wurde zum Beispiel unlängst ein Erklärvideo der «Explico»-Serie zum Thema Früherkennung veröffentlicht, und in den eigenen und sozialen Medien wird auf die Symptome aufmerksam gemacht. In Inseraten und Medienberichten wird auch immer wieder auf den Diagnosetest auf www.bechterew.ch hingewiesen. All dies und weitere Kampagnen in der Zukunft sollen dazu beitragen, die Diagnoseverzögerung auch in der Schweiz weiter zu reduzieren. Und so das Leid der Betroffenen in der ersten Zeit mit der Krankheit und darüber hinaus zu mindern.

Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift «vertical» Nr. 92/Mai 2022 erschienen.